BEIßWENGER: Wachstum ja, aber mit Qualität Sommerinterview:

Wachstum ja, aber mit Qualität Interview: 

Weil die Koalition keine Stimmenmehrheit mehr hat, sieht FDP-Fraktionschef Beißwenger seine Partei in einer wichtigeren Rolle / Dem OB attestiert er, richtige Themen anzupacken

DARMSTADT . Auch nach dem Stimmen-Mehrheitsverlust der Koalition sieht FDP-Fraktionschef Sven Beißwenger keine Notwendigkeit, Liebesgrüße an die Koalition zu richten. Seine Fraktion will in Darmstadt aber konstruktiv mitgestalten. Im Gespräch erklärt er, warum seine Partei mit dem aktuellen OB besser kann als mit seinem Vorgänger, und beim Wachstum Qualität vor Quantität geht, ohne die eigene Weltoffenheit aufzugeben. 

Herr Beißwenger, haben Sie schon Liebesbriefe an die Fraktionsspitzen von Grünen, CDU und Volt geschrieben? 

(lacht) Nein, bislang nicht. Ich weiß aber, worauf Sie mit Ihrer Frage anspielen wollen. 

Die Koalition hat durch den Austritt des Grünen-Abgeordneten Jürgen Barth ihre Stimmen-Mehrheit verloren. 

Natürlich ist die Koalition nun auf die Zustimmung einer weiteren Fraktion oder zumindest einer Einzelperson angewiesen. Es bleibt abzuwarten, wie Jürgen Barth sich verhalten wird. Fundamentalopposition wird er wohl nicht machen, aber diese Position verschafft ihm mehr Machtfülle. Ich habe Achtung vor seiner Entscheidung, auch wenn ich seine Begründung mitnichten teile. Allerdings hatten wir in der Vergangenheit auch schon die Situation wechselnder Mehrheiten. Neu ist das für uns also nicht. Als FDP-Fraktion werden wir uns konstruktiven Dialogen nicht verschließen. 

Wer müsste sich aus Ihrer Sicht mehr bewegen, um Mehrheiten zu organisieren – Koalition oder Opposition? 

Die Koalition, schließlich hat sie die Mehrheit verloren. Aber auch hier gibt es die Erfahrung aus der Vergangenheit, dass wir für Einzelentscheidungen kontaktiert worden sind. Das war damals bei der Entscheidung für die Videoüberwachung auf dem Luisenplatz der Fall, damit noch eine Fraktion aus der demokratischen Mitte dabei ist und nicht die AfD. Allgemein sehe ich zwischen Opposition und Koalition keine starren Blöcke, das hat sich in dieser Legislaturperiode gewandelt. 

Also war es schon mal schlimmer? 

Ja, gerade zwischen 2016 und 2021, da wurde alles aus der Opposition abgelehnt oder durch eigene Anträge übernommen. Das erlebe ich heute anders und ich hoffe, dass es noch offener wird. 

Wie nehmen Sie eigentlich die aktuelle „Geräuschkulisse“ im Magistrat wahr? Da gibt es ja ab und zu Knatsch. 

Ich sehe, dass die CDU-Kollegen ganz gut mit OB Hanno Benz können, bei den Grünen ist das etwas anders. Insgesamt würde ich mir weniger Nebengeräusche wünschen und dass Auseinandersetzungen mehr hinter den Türen stattfinden. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Koalition noch nicht die innere Haltung hat, dass der OB tatsächlich von einer anderen Partei ist. 

Uns fällt auf, dass Ihre Fraktion häufig mit OB Benz einer Meinung ist. Das betrifft nicht nur die Skepsis zur Tram Wixhausen, sondern seine Wachstumsdebatte oder die Wiederabstimmung zur Straßenkehrsatzung. Können Sie mit ihm besser als mit seinem Vorgänger? 

Der Eindruck ist richtig. Das liegt daran, dass er Themen anstößt, die unter Jochen Partsch nicht diskutiert wurden. Beim Wachstum wurde oft der Eindruck erweckt, man müsse da gar nichts steuern und jeder, der skeptisch ist, wäre gegen Weltoffenheit. Das ist Käse! Wir haben keine Mauer um diese Stadt. Die Frage aber, welches Wachstum wir möchten, ist unzureichend diskutiert worden. 

Finden Sie es denn inhaltlich fundiert, was der OB dazu sagt? Es ist das Eine, einen Stein ins Wasser zu werfen und zu sehen, welche Kreise entstehen oder das Ganze auch zu unterfüttern. 

Ich habe durchaus den Eindruck, dass er sich intensive Gedanken macht und nicht einfach etwas raushaut. Das kann er sich auch gar nicht leisten, schließlich ist Hanno Benz für einen Politikwechsel angetreten. 

Aber überreizt er nicht manchmal, wenn wir etwa an die „Alnatura-Lastenrad-Romantik“ Richtung Grüne denken? 

Es sind manchmal Dinge darunter, die ich so nicht äußern würde. Dazu zählt auch die öffentliche Kritik am Bauverein. Das ging an die Grenze und war der Sache – etwa in der aktuellen Messplatz-Debatte – nicht dienlich. 

Was heißt das dann mit Blick auf das berüchtigte Wachstum – ist das eine quantitative oder qualitative Frage? 

Eindeutig qualitativ. Wie gehen wir mit den vorhandenen Flächen um, wo ist Nachverdichtung möglich, das sind die wichtigen Fragen. Hinzu kommt: Wenn man baut, was soll da eigentlich hin? Es muss auch möglich sein, Reihenhäuser zu bauen und Eigentum zu fördern. Denn wer Eigentum selbst nutzt, macht vorhandene Mietwohnungen frei. Dabei ist auch die Quotierung bei Neubauten (Sozialer Wohnungsbau, mittlere Einkommen, freier Markt) womöglich in der Form nicht mehr sinnvoll. Das ist aber noch nicht alles. 

Sondern? 

Jedes Bevölkerungswachstum zieht nicht nur neue Wohnungen, sondern eine soziale Infrastruktur nach sich: Kitas, Schulen, Gesundheit, ÖPNV, Kultur, Sport, Freizeit und so weiter. Wir bekommen jetzt schon die Kitas nicht immer mit Erzieherinnen besetzt, da Fachpersonal fehlt. Das müssen wir berücksichtigen. 

Sie selbst treten bedächtig auf, sprechen eher leise. Würden Sie sagen, dass die offene Konfrontation Ihnen nicht liegt und Sie dann lieber Leif Blum den Vortritt lassen? 

Da haben wir keine spezielle Aufteilung, sondern das ist fachbezogen. Natürlich sind wir unterschiedliche Charaktere mit ihrem eigenen Stil. Wenn Sie mit der Frage meinen, ob ich mich als ausgleichende Stimme sehe, die andere nicht vor den Kopf stoßen will, ist das schon zutreffend. 

Nach der Wahl ist vor der Wahl und 2026 ist nicht mehr ganz so weit, daher: Haben Sie schon Schwerpunktthemen für die nächste Kommunalwahl? 

Damit starten wir diese Woche. Noch nicht in aller inhaltlicher Tiefe, sondern wen wir einbinden werden. Aber absehbar ist, dass Wachstum, Wohnen, Gewerbeansiedlung wichtige Themen sein werden. Dazu solide Finanzen und die Digitalisierung der Verwaltung. Da herrscht mir noch zu sehr das Verständnis: Wir scannen mal eine PDF-Datei ein und das ist dann Digitalisierung. So nicht! Prozesse müssen automatisierter und schneller sein. Da hätten wir von unserem Digitaldezernenten mehr erwartet. 

Kommen wir noch zu einem anderen aktuellen Thema: Die Bürgerumfrage Wixhausen hat das Projekt Straßenbahn erst einmal begraben. Sollte man da nochmal politisch ran? 

Hier gilt zunächst, was wir zuvor auch gesagt haben: Wenn das Ergebnis steht, müssen wir das auch so respektieren, ansonsten hätte man sich die Befragung auch sparen können. Ein Problem hatte ich in der Debatte mit etwas anderem: Der Ablauf des Prozesses und die Kommunikation mit der Öffentlichkeit waren nicht optimal. Die Vorzugsvariante war nicht mehrheitsfähig, da eine Verlängerung auf die Westseite der Bahnlinie nicht möglich erschien. Das hat wesentlich zur Stimmung im Stadtteil beigetragen. Eine Wiederaufnahme des Projekts hätte höchstens dann eine Chance, wenn mehr Ergebnisoffenheit besteht. Aber es bleibt auch das Problem: Die Straßenbahn wäre teuer. 

Das Interview führte André Heuwinkel. 

ZUR PERSON 

SOMMERINTERVIEWS 

Sven Beißwenger (49) ist in Groß-Gerau geboren worden und hat in Darmstadt sein Abitur gemacht. Es folgte ein Studium der Rechtswissenschaften an der Frankfurter Goethe-Uni und ein Magister-Abschluss in Verwaltungswissenschaften an der DHV in Speyer. Seit 2003 ist er Beamter im höheren Dienst in der hessischen Finanzverwaltung. Seit neun Jahren ist Beißwenger zudem Präsident der SG Arheilgen. (aheu) 

Viel personeller Wechsel, viel politischer Streit und jetzt auch noch eine Patt-Situation im Parlament: Wir bitten die Spitzen der größten Fraktionen in Darmstadts Stadtparlament zu den Sommerinterviews.